
Die Familie Radek-Nadolny
wie die Ostpreußen nach Wolfstein kamen. >
Ein Beispiel
Die Schlesier (Pohlit) nach Landau
(ein Artikel aus der RHEINPFALZ vom 21.11.2020)
Ein letztes Mal den kargen Hausstand zusammenpacken: Für die Zwillingsbrüder Peter und Klaus Pohlit
endete eine fünfjährige Odyssee der frühen Nachkriegsjahre 1950 mit dem Eintreffen in der Pfalz. Und sie sind der neuen Heimat bis heute treu geblieben. Eine Flüchtlingsgeschichte mit Happy End.
Anfang Februar 1945. Es ist bitter kalt Temperaturen bis minus 20 Grad Celsius. Auf dem Hauptbahnhof in Breslau(heute Wroclaw, Polen) herrscht unbeschreibliches Gedränge, das blanke Chaos. Ruth Pohlit ergattert für sich und ihre zwei Buben Plätze im wohl letzten Zug, der Niederschlesien vor den heranrollenden russischen Truppen verlässt – und nicht vorwärts kommt, weil er immer wieder an überfüllten Bahnhöfen Halt macht, sich noch mehr Menschen auf die Trittbretter und hereindrängen. Aus Furcht vor den Fliegerangriffen stoppt der Zug oft auf freier Strecke, nachts wird das Licht abgeschaltet. Kinder schreien. Die Fahrt nach Thüringen sollte zwei Tage dauern.
Irgendwie hatte es sich herumgesprochen: Die zwei süßen blonden Zwillingsbuben haben Geburtstag,
werden am Tag ihrer Flucht vier Jahre alt. Ein freundlicher Herr, Arzt, wie später zu erfahren ist, öffnet seine Aktentasche und sagt: „Mal schauen, ob ich was für euch habe.“ Zaubert ein mit Schinken belegtes Brötchen -wohl sein ganzer Reiseproviant – hervor, teilt es und reicht Klaus und Peter je eine Hälfte.
„Herzlichen Glückwunsch!“ Sie trauen sich erst gar nicht zuzulangen.
So beginnen die Erinnerungen an die unsteten Jahre zwischen der Flucht aus Schlesien und der Ankunft in Landau 1950, wie sie Peter und Klaus Pohlit auf knapp 50 eng beschriebenen und bebilderten Din-A4-Seiten für ihre Kinder und Enkelkinder konserviert haben. Aufzeichnungen, die tief berühren. Die man sich gar als Schullektüre vorstellen könnte. Und die auch die Autorin, obwohl erst später dazugestoßen. als Teil ihrer Familiengeschichte und daher sehr persönlich betrachtet.
Ein Dachzimmer in Thüringen
Im thüringischen Oberlind angekommen, wird Ruth mit ihren Zwillingen zunächst in ein winziges Dachzimmer einquartiert. Dort ist es eisig kalt, und die meiste Zeit, so erinnert sich Peter, lagen wir im Bett, um nicht frieren zu müssen. Die Mutter war oft lange abwesend, versuchte, am Bahnhof an Kartoffeln oder ein paar Briketts zu kommen.“ Es ging aufs Kriegsende zu.„ Bei den Fliegerangriffen zitterten die Wände, und wir weinten und schrien die ganze Zeit.“
Wenig später, da hatten die Amerikaner die Region um Sonneberg, wozu auch Oberlind gehörte, schon den Russen überlassen, wechselten die drei das Domizil. „Die neue Familie, die uns ein Zimmer ihrer Wohnung überlassen musste, war zum Glück freundlich. Das Haus lag in Nachbarschaft zum Hof des Großbauern Eichhorn, mit dessen etwa gleichaltrigem Sohn Manfred wir uns rasch anfreundeten. Der Bauer mochte
uns nicht so sehr. aber Manfreds Großeltern kamen eines Tages und brachten uns ein großes Stück Bauernbrot mit Sirup – welch eine Delikatesse!“
Fortan durften die kleinen Buben im Heuschober spielen, oben auf den Leiterwagen sitzen, im Obstgarten herumtoben. Und das Sirup-Brot wurde tägliches Ritual, erwartet mit bangenden Herzen und voller Furcht, es könnte mal vergessen werden. Einmal gar waren Klaus und Peter zum Weihnachtsessen eingeladen. Es gab Gänsebraten und die großen Thüringer Klöße, dazu eine fette Soße. „Unsere Mägen vertrugen solch schwere Kost nicht. Klaus musste sich übergeben.“
Im Mai kam der Vater, schwer gezeichnet, aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück. Seine Kinder hatte er zuvor nur einmal gesehen, als er 1944 nach einer Schulterverletzung auf Heimaturlaub, gewesen war. Herbert Pohlit, ein Schöngeist, passabler Geiger mit abgebrochenem Jura-Studium und abgeschlossener Banklehre. musste jetzt für Hungerlohn in der Oberlinder Eisengießerei schwere körperliche Arbeit tun. Zog sich seelisch immer mehr in sich zurück.
Ruth, die Puppenschmugglerin
„Ohne unsere zupackende Mutter – wer weiß, was aus uns geworden wäre,“ Ruth hatte mit findigem Organisationsgeist eine bescheidene Einnahmequelle entdeckt, indem sie Puppen aus der Sonneberger Manufaktur in den Westen schmuggelte, dort verkaufte und so auf dem Schwarzmarkt ein paar
Grundnahrungsmittel erstehen konnte. Irgendwie hatte sie es sogar geschafft ihren Buben zur Einschulung 1947 eine Schultüte zu beschaffen.
Wirklich schlimm aber war die Ernährungslage. „Fleisch kannten wir überhaupt nicht, selten ergatterte Mutter übel riechende Kabeljaustücke oder Fischrogen. Oft aßen wir nur Kartoffelschalen“, berichtet Peter. „Regelmäßig brachte Vater seine Essensration. Meist Graupensuppe, aus der Fabrik mit und er gab sie uns Kindern. Manchmal stahl er auch zwei Zuckerrüben auf dem Feld, – die dann zu Hause in Scheiben geschnitten und roh verzehrt wurden. Er litt sehr darunter, dass er seine Familie nicht ernähren konnte.“
Noch war das Niemandsland zwischen Thüringen und der Westzone offen. wenn auch von russischen Grenzsoldaten bewacht. Das Verlassen der russischen Zone war untersagt. Vater Herbert, der zuweilen per Bahn seinen Bruder im hessischen Butzbach besuchte, galt deshalb als suspekt. Mutter – Ruth, die weitblickend die politischen Zeichen der Zeit längst erkannt hatte, bereitete die Flucht auf ihre Art vor.
Mehrfach hatte sie mit Tagesgepäck die russischen Grenzposten passiert, um im Nachbarort angeblich die „Babuschka“, die Oma, zu besuchen. »Jeden dieser Besuche nutzte sie. um kleine Geldbeträge. die wir Kinder in den Schuhen versteckt bei uns trugen, bei Freunden zu deponieren. Die russischen Grenzer, ganz vernarrt in uns kleine Blondschöpfe, hatten sie jedes mal scherzend abends wieder durchgewinkt.
Lagerleben an der Saale
Am Tag der Flucht wäre das beinahe schief gegangen, denn erstmals wurde ihr Pass einbehalten. Der Vater. Gerade wieder zurück von einem Westbesuch machte sich, gewarnt von Nachbarn, noch am Abend mit zwei Koffern zu Fuß durch den Wald auf den beschwerlichen Weg. wurde in Bayern aufgegriffen, aber zum Glück nicht zurückgeschickt. In Coburg wurde die Familie vereint und im Frühjahr 1949. nach wenigen Tagen Interim bei Freunden, ins Lager Hof-Moschendorf eingewiesen.
„Die Zugfahrt erinnerte mich damals immer wieder an die Flucht aus Schlesien. Seitdem waren ja erst vier Jahre vergangen, und die Bilder von Flüchtenden mit ihren wenigen Habseligkeiten lagen noch offen im Gedächtnis. Aber wenigstens war Vater jetzt dabei“. beschreibt Klaus die Gedanken bei der Ankunft im tristen, Stacheldraht umzäunten Barackenlager, das nach Ende der Gefechte zunächst Kriegsgefangene beherbergt und zuvor bei den Nazis wohl als Außenstation der KZ Dachau und Flossenbürg gedient hatte. Wie üblich, mit direkter Bahnanbindung und Gleisen, die am Lagertor endeten.
Immer vier Familien teilten sich eine Baracke. „Von der Eingangstür aus kam man in die Mitte des Raums, dort stand ein eiserner Ofen, der den Raum in der Mitte teilte. Links und rechts hatten sich je zwei Familien mit wollenen Decken ihre „Wohnungen“ abgeteilt; diese bestanden aus einem Doppelstockbett und einem kleinen Vorplatz mit Tisch und zwei Stühlen. Privatleben? Undenkbar. Jedes Wort Jede Körperäußerung, jedes Geräusch wurde registriert. Unsere Eltern müssen furchtbar unter diesem Verzicht auf Intimsphäre
gelitten haben. Und das Lagerleben war öde. eine sinnvolle Beschäftigung gab es nicht. Sie haben sich in dieser Zeit spürbar entfremdet.“
Kaum erträglich waren auch die hygienischen Verhältnisse; die Wasserhähne im Gemeinschaftswaschraum spendeten nur eiskaltes Wasser; die Latrinen – Holzsitze. ohne Abtrennung auf einem langen Brett über ausgehobenen Gruben nebeneinander gereiht waren manchmal bis fast zur Sitzfläche gefüllt. Es stank bestialisch.
Die Lehrer in der Lagerschule, Kinder mehrerer Altersstufen zusammengefasst, mühten sich nach Kräften, ohne Schulbücher und Schreibmaterial etwas zustande zu bringen. Nicht selten herrschte noch der Kasernenhofton der Nationalsozialisten. „Trotz allem machten wir Kinder uns nicht viel daraus.
Wir waren mit der Not vertraut geworden und Entbehrung gewohnt. Dafür lebten wir ungebunden.“ Erkundigungen in die Umgebung, Abenteuerspiele rund um die Bahngleise. Und es gab
hier genug zu essen, einmal auch ein „Care-Paket“ von den Amerikanern.
Wir waren in diesem Sommer 1949 zwei braungebrannte, lebensfrohe Buben.“
Rückkehr nach dem Mauerfall
Nach der BRD-Staatsgründung sollten allmählich die Lager geleert „werden. Vater Herbert hatte sich für Rheinland-Pfalz, der Natur und der Weinberge wegen, gemeldet. Am l. September 1950 rollte der Zug mit Aussiedlern im Landauer Hauptbahnhof ein. Zum dritten Mal waren die Bündel geschnürt, Holzkiste“ gepackt worden. Nach wenigen Wochen in der Turnhalle der Pestalozzischule wo eilig Matratzenlager zur Verfügung gestellt worden waren, durften die Pohlits im November eine winzige Dachwohnung beziehen. Die Toilette befand sich in der Nachbarwohnung und war mit den dortigen Bewohnern zu teilen. „Aber endlich waren wir jetzt sesshaft.“
1968 war Peter Pohlit erstmals nach Hof gereist, hatte sich auf Spurensuche begeben, das. längst neu bebaute ehemalige Lagergelände durchforscht, hatte vor Ort die Mosaiksteine aus seiner Kindheit im Kopf wieder zusammengesetzt. Und gleich nach dem Mauerfall, 1990 haben sich beide Zwillinge nach Thüringen aufgemacht, die Domizile in Oberlind aufgesucht, die Wehrkirche, die sie nach einem eindrucksvollen Musikerlebnis als Fünfjährige fortan nur noch mit „Orgelkonzert“ benannten, den Bauernhof mit den Sirupbroten und auch den Jugendfreund Manfred wiedergetroffen.
„Es war gespenstisch. Nichts hatte sich verändert. Schule und Klassensaal, die uralten Möbel, die verkratzte Wandtafel, der Putz, der von den Wänden rieselte. Es war, als sei die Zeit 40 Jahre lang stehen geblieben.“
QUELLE
Peter Pohlit/Klaus Pohlit: „Stunde Null – für unsere Kinder“. Peter und Klaus Pohlit haben beide Pädagogik studiert und nach Zusatz Studium in Mainz ab 1971 die Realschulen Annweiler beziehungsweise Schifferstadt mit aufgebaut, denen sie als Lehrer für Deutsch und Biologie der eine, Chemie und
Kunst der andere, bis zum Ruhestand treu geblieben sind. Peter ist langjähriger freier Mitarbeiter der RHEINPFALZ und wohnt mit seiner Familie in Annweiler, Klaus, dessen
großes Hobby die Kirchenmusik ist, lebt in Haßloch
Zahlen aus dem Archiv
Die Flüchtlingswelle erreicht 1950 die Pfalz
Sudeten, Batschka, Schlesier, und Buchenland manche Straßennamen im Landauer Horst-Viertel weisen noch hin auf ein denkwürdiges Kapitel im gerade frisch wirtschaftswundernden Nachkriegsdeutschland. Wie weitere pfälzische Kommunen musste auch Landau sich 1949 bereit erklären. Ein Kontingent an Heimatvertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten aufzunehmen; 1840 Flüchtlinge von 36.500 insgesamt, die ab 1950 – aus Lagern in Bayern und Schleswig-Holstein – in der Pfalz unterkommen sollten.
Hintergrund: Die erste Flüchtlingswelle hatte das Gebiet der französischen Besatzungszone, zu der auch das spätere Rheinland-Pfalz zählte, nicht erreicht, da sich Frankreich ab Sommer 1945 weigerte, Flüchtlinge aufzunehmen und auch in den Folgejahren Abschottungspolitik betrieb. Unmittelbar nach Gründung der Bundesrepublik, im Sommer 1949, ließ Frankreich dann die Aufnahme von Umsiedlern zu. Im Landauer Stadtrat war man über die Höhe der Zuweisung nicht erfreut, zumal man unter der eigenen Bevölkerung
immer noch rund 1000 Wohnungssuchende wusste. In den Monaten danach liefen die Bemühungen auf Hochtouren. Die Stadt unterstützte Ausbauten von Mansarden und Nebengebäuden, verfügte auf gesetzlicher Grundlage Zwangsrequirierung von Wohnraum, trieb Bauvorhaben voran.
„Das Protokoll der Stadtrats vom 31. Oktober 1950″. so informiert Dominik Veith vom Stadtarchiv Landau, „nennt die Zahl von 667 Flüchtlingen, die in festen Wohnungen untergebracht waren. außerdem 93 in Sälen, Krankenhäusern und Hotels.“ Mit Blick auf die Einwohnerzahl hatte Landau von 1950 auf 1951 einen Zuwachs von 1751 Personen. rund 1000 mehr als in den unmittelbaren Vorjahren, so die Chroniken jener Zeit.
Hinter den Zahlen: Menschen
„Die Flichtling kumme“: Willkommen waren wir nicht
„Von klein auf waren wir ja Zugvögel, ans Vagabundieren gewöhnt, Waren jetzt gespannt auf dieses letzte Domizil Landau, vor allem auf die Weinberge, die wir uns vorstellten als riesige Anhöhen mit großen Bäumen, von deren Ästen Trauben herabhingen“, erinnern sich die Brüder Pohlil. Zuweilen ziehen die beiden 79-Jährigen schon mal Parallelen zur aktuellen Flüchtlingslage, können sich vorstellen, wie sich heutzutage Ankömmlinge aus Syrien oder Afghanistan fühlen mögen. „Und wir konnten uns ja immerhin verständigen.“
Die meisten angestammten Einwohner waren bemüht. „Aber wir waren halt die „Flichtling“, man sah es an unserer Kleidung, den abgetragenen Schuhen, hörte es am fremdartigen Zungenschlag. In Thüringen waren wir die „Zigeuner“ gewesen: „Geht zurück, wo sie hergekommen seid ! “ Und hier die Habenichtse.“
„Bedürftige Kinder, so auch wir, nahmen an der Schulspeisung teil. Wir ließen die alten Militärgeschirre des Vaters mit Kakao, Rosinenbrei oder süßen Milchnudeln füllen. Und schämten uns immer schrecklich, wenn wir in den Pausen da saßen als die armen Schlucker.“
Wer kein Fahrrad hat, kann keinen Aufsatz schreiben.
Klaus Pohlit erinnert sich eines Aufsatzthemas zu Beginn der Gymnasialzeit, das für die Brüder mit schlechten Zensuren beschieden wurde. „Wir sollten beschreiben, wie man einen Fahrradreifen fachgerecht flickt. Und wir waren tatsächlich die einzigen ahnungslosen ,Exoten‘ in der Klasse. Wie auch – hatten wir doch nie auf einem Zweirad gesessen, geschweige denn eines besessen.“ Was die Lehrerin allerdings wenig beeindruckte.